Care Leaver: Junge Menschen auf ihrem Weg in die Selbständigkeit unterstützen
Mittwoch, 04.09.2024
Im Jahr 2022 verließen 1.225 volljährige junge Menschen in Hamburg die unterschiedlichen Angebote der stationären Jugendhilfe und 102 eine Pflegefamilie. Diese sogenannten Care Leaver sind nach dem Verlassen der Jugendhilfe ohne die festen Ansprechpartner:innen und den Kontakt zu anderen Jugendlichen in den Einrichtungen auf sich allein gestellt. Viele benötigen auch nach dem Auszug aus der Wohngruppe oder Pflegefamilie noch Unterstützung, insbesondere bei Fragen, die die Wohnung oder Berufsausbildung betreffen sowie die Beantragung von weiteren staatlichen Leistungen. Diese wichtige Phase des Übergangs von der Jugendhilfe in die Selbstständigkeit wollen wir thematisieren und die zentralen Themen für die jungen Care Leaver verstärkt in den Blick nehmen. Dazu gehört, den Prozess der Verselbstständigung in der Jugendhilfe von Anfang bis Ende zu betrachten. Um den Status Quo in Hamburg zu erfassen, Bedarfe und bestehende sowie fehlende Angebote zu diskutieren, soll der Dialog mit Trägern, Jugendamt und Care Leavern im Rahmen einer Fachveranstaltung gebündelt werden.
Der Begriff Care Leaver bezeichnet Menschen, die einen Teil ihres Lebens in öffentlicher, stationärer Erziehungshilfe verbracht haben. Insbesondere wird mit dem Begriff ein Fokus auf diejenigen gelegt, für die der Übergang aus der öffentlichen, stationären Erziehungshilfe in die Selbständigkeit unmittelbar bevorsteht oder die diese Betreuungsformen vor kurzem verlassen haben. So beschreibt es auch der Care Leaver e. V., die einzige bundesweite, selbstorganisierte Vertretung von Care Leavern.
Mit dem Verlassen der Pflegefamilie oder Wohngruppe ist für junge Menschen oft Verunsicherung verbunden, da die gewohnten Ansprechpersonen aus der Jugendhilfe fehlen, Eltern stehen als Unterstützer:innen und Ratgeber:innen meist nicht zur Verfügung. Hinzu kommt, dass Care Leaver den Schritt in die Selbständigkeit mit 18 Jahren oder spätestens mit 21 Jahren machen müssen und damit in vielen Fällen früher als andere Jugendliche und junge Erwachsene. Das durchschnittliche Auszugsalter aus dem Elternhaus in Deutschland lag 2022 bei 23,8 Jahren. Zudem ist der Auszug aus der Jugendhilfeeinrichtung unumkehrbar, der Auszug aus dem Elternhaus ist das heute oft nicht mehr.
Die Verlängerung der Bildungswege führt zudem dazu, dass junge Erwachsene sich ausprobieren, Risiken eingehen, sich umorientieren: Möglichkeiten, die Care Leaver nicht haben oder nicht für sich erkennen. Dies kann auch ein Grund dafür sein, dass Care Leaver sich überwiegend für Ausbildungsberufe entscheiden, die schneller Sicherheit durch eigenes Einkommen bieten können und ein Studium meist nicht in Betracht gezogen wird. Auch eine Wohnung zu finden ist für Care Leaver schwierig, da sie keine Sicherheiten vorweisen können. Dies gilt umso mehr auf dem angespannten Hamburger Wohnungsmarkt.
Um den Start in die eigene Wohnung sowie die Fortsetzung der schulischen oder beruflichen Ausbildung zu meistern haben Care Leaver einen gesetzlichen Anspruch auf Beratung sowie je nach Einkommen auf verschiedene Leistungen wie Wohngeld, Bürgergeld, BAföG oder Beihilfe für die Erstausstattung der Wohnung. Von Care Leavern wird jedoch berichtet, dass öffentliche Stellen ihre Belange oft nicht kennen, sie nicht richtig unterstützt werden und Leistungen nicht genehmigt werden, auf die ein Anspruch besteht.
Für Care Leaver ist es daher wichtig, dass sie frühzeitig und umfassend beraten werden: in Hilfeplangesprächen ebenso wie durch die Träger der Hilfen zur Erziehung oder in Pflegefamilien. Nur so können eine bestmögliche Unterstützung gewährt und die jungen Menschen in die Lage versetzt werden, ihre Möglichkeiten abzuwägen und gute Entscheidungen für ihr weiteres Leben zu treffen.
Auch der Begegnung mit anderen Care Leavern und dem Austausch untereinander kommt eine große Bedeutung zu. Sie bieten die Möglichkeit, sich gegenseitig zu unterstützen und voneinander zu lernen. Sobald die jungen Erwachsenen die Wohngruppe verlassen haben ist es für sie jedoch schwierig, Kontakte zu anderen Care Leavern zu knüpfen. Thüringen, Potsdam und Dresden setzten hier bereits auf das Konzept des Care Leaver-Zentrums. Hier können Care Lever gemeinsam ihre Freizeit verbringen und sich gleichzeitig beraten lassen zu allen Fragen im Übergang aus der stationären Jugendhilfe in ein selbständiges Leben.
Mit einem Angebot im Bereich Wohnen richtet sich Hamburg bereits explizit an Care Leaver: Im Rahmen des Konzepts „Hier wohnt Hamburgs Jugend“ der Sozialbehörde kümmert sich „Lawaetz Jugend&Wohnen“ um Wohnraum für Care Leaver. Seit 2017 konnten im Durchschnitt 300 junge Menschen pro Jahr in Wohnraum vermittelt werden, darunter über 80 Care Leaver in Wohnangebote des Konzepts „Hier wohnt Hamburgs Jugend“. Der Träger „Home Support“ bietet zudem Beratung rund um das Thema Wohnen an. Home Support berät 300-350 Menschen im Jahr. Neben der Beratung zu Wohnungsfragen werden auch Bewerbungstrainings angeboten. Außerdem hat der Träger den Auftrag, die Selbstorganisation der Care Leaver in Hamburg zu unterstützen, woraus eine Reihe regelmäßiger Care Leaver-Treffen mit verschiedenen Freizeitaktivitäten entstanden ist. Eine eigenständige Organisationsstruktur der Care Leaver in Hamburg gibt es noch nicht. Andere Angebote wie „Jugend Aktiv Plus“ oder die Jugendberufsagentur richten sich an alle jungen Menschen, die Fragen rund um das Thema Verselbständigung haben.
Im Rahmen einer Fachveranstaltung soll zunächst die Situation der Care Leaver in Hamburg beleuchtet und bestehende Angebote zusammengetragen werden. Es sollen alle interessierten und/oder beteiligten Träger der Beratung, Träger der Hilfen zur Erziehung und der Pflegefamilien, Jugendämter, Jugendberufsagentur und Care Leaver selbst mit einbezogen werden. Die Fachveranstaltung soll die Verselbständigungskette als Prozess beleuchten und sich an folgenden Fragen orientieren:
· Erfolgt die Information über die Beendigung der Jugendhilfe so, dass Care Leaver ihre Rechte und Möglichkeiten sowie Beratungsangebote kennen?
· Wird die Beendigung der Hilfe rechtzeitig im Hilfeplangespräch thematisiert?
· Gibt es Vorlagen wie eine Verselbständigungscheckliste, die dabei helfen kann, das Thema nicht aus den Augen zu verlieren?
· Welche Rolle spielen bereits existierende Beratungsstellen? Könnten sie als Multiplikatoren fungieren, für das Thema sensibilisieren und sicherstellen, dass die bestehenden Angebote bei Jugendämtern und Trägern bekannt sind?
· Richtet sich die Öffentlichkeitsarbeit auch direkt an Care Leaver?
· Wie kann das Thema Chancengleichheit und Bildungsabschlüsse von Care Leavern in den Blick genommen werden, um Care Leaver auf ihrem Bildungsweg besser zu unterstützen?
· Sind die verschiedenen Stellen, die mit Care Leavern arbeiten, wie Schulen oder die Jugendberufsagenturen, für die Belange der Care Leaver sensibilisiert, um Stigmatisierungen zu vermeiden?
· Sollte hier beispielsweise über interdisziplinäre Fachtage eine weitere Auseinandersetzung mit der Zielgruppe erfolgen?
· Können Beratungs- und Vernetzungsangebote für Care Leaver auch in Hamburg weiterentwickelt werden?
Die Bürgerschaft möge beschließen:
Der Senat wird ersucht,
1. eine Fachveranstaltung zum Thema Care Leaver in Hamburg durchzuführen, die den Prozess der Verselbständigung in und nach dem Verlassen der Jugendhilfe beleuchtet und interessierte und zuständige Träger und Stellen sowie Care Leaver und/oder Care Leaver-Vertretungen einbezieht.
2. nach der Veranstaltung eine Arbeitsgruppe einzurichten, die die Ergebnisse zusammenführt und entsprechende Verfahren weiter- oder neu entwickelt, die für eine Verselbständigungskette förderlich sind. Besondere Bedeutung sollen hierbei neben den Nachbetreuungsmöglichkeiten (§ 41a SGB VIII) die Selbstbestimmung und Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen haben.
3. den bestehenden „Fachtag junge Volljährige“ des Sozialpädagogischen Fortbildungszentrum (SPFZ) auszubauen, um ein erweitertes Angebot des interdisziplinären Austausches zu schaffen. Vorrangig soll sich zu Anforderungen und Fragestellungen, die sich aus dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz ergeben, fachübergreifend und unter Beteiligung von Care Leavern und/oder Care Leaver-Vertretungen ausgetauscht werden.
4. das bereits bestehende Projekt „Hier wohnt Hamburgs Jugend“ gemeinsam mit der Wohnungswirtschaft weiter auszubauen und zu optimieren.
5. dem Familienausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft bis 31.12.2024 einen Zwischenbericht vorzustellen.
- Uwe Lohmann (Fachsprecher:in Familie, Kinder und Jugend)
- Vanessa Mohnke
- Marc Schemmel
- Frank Schmitt
- Tim Stoberock
- Carola Veit
- Güngör Yilmaz
sowie
- Britta Herrmann
- Filiz Demirel
- Mareike Engels
- Linus Görg
- Michael Gwosdz
- Dr. Adrian Hector
- Christa Möller-Metzger
- Dr. Gudrun Schittek
- Yusuf Uzundag
- Peter Zamory (GRÜNE) und Fraktion