Neufassung: Unterstützung der gehörlosen Menschen in Hamburg für ihren Kampf um Anerkennung, Aufarbeitung von erlittenem Leid und Förderung niedrigschwelliger Hilfen
Dienstag, 15.07.2025
Der 1880 auf dem 2. Internationalen Taubstummen-Lehrer-Kongress, dem Mailänder-Kongress, beschlossene Vorzug der Lautsprache gegenüber der Gebärdensprache wurde in vielen Ländern als Gebärdensprachenverbot umgesetzt.
Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) wurde erst 2002 mit der Verabschiedung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) als eigenständige Sprache anerkannt und die gebärdensprachliche Beschulung erst 2009 mit der UN-Behindertenrechtskonvention gesetzlich verankert.
Anerkennung und Aufarbeitung von erlittenem Leid
Im Rahmen der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Soziales, Arbeit und Integration vom 06.02.2025 haben gehörlose Bürger:innen aus ganz Deutschland eindrucksvoll geschildert, welche individuellen Auswirkungen das Verbot, im Schulunterricht Gebärdensprache zu verwenden, zur Folge hatte. Gehörlose Schüler:innen wurden bis in die 1990er Jahre gegen ihren Willen – teilweise unter Anwendung physischer Gewalt – dazu gezwungen, in der Schule auf Gebärden zu verzichten. Der Zugang zu höherer Bildung und Berufsabschlüssen wurde dadurch vielen Menschen verwehrt oder zumindest deutlich erschwert. In der Anhörung berichteten Bürger:innen, dass sie nicht den Beruf erlernen konnten, den sie sich eigentlich wünschten, dass sie niedrige Renten erhalten und dass sie teilweise bis heute unter Traumata aufgrund psychischer und physischer Gewalterfahrungen leiden. Einige Anwesende forderten die Anerkennung des erlittenen Leids und die Durchsetzung des erstrittenen Rechts auf Gebärdensprache.
Die Ausführungen der Bürger:innen bei der Anhörung haben die Vertreter.innen der Bürgerschaftsfraktionen und des Senats sichtlich berührt.
Aus der Anhörung wurde deutlich, dass die erforderliche Aufarbeitung erlittenen Leids, die Überwindung der Benachteiligung und die Inklusion gehörloser Menschen Themen sind, die nicht nur die Freie und Hansestadt Hamburg, sondern alle sechzehn Bundesländer betreffen. Es ist erforderlich, dass die Anwendung der sogenannten oralen Methode an den deutschen Schulen und die daraus resultierenden Leiderfahrungen bundesweit aufgearbeitet werden. Es bedarf einer Aufarbeitung, Anerkennung, Entschuldigung und Entschädigung dieses erlittenen Leids.
Niedrigschwelliger Zugang zu Hilfen
In der Freien und Hansestadt Hamburg wird das Recht auf Verwendung der Gebärdensprache bereits jetzt vielfältig von Maßnahmen des Senats flankiert. Der Hamburger Gehörlosenverband, der Gehörlosensportverein und die Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen in Hamburg e. V. erhalten in den Zuwendungen des Senats beispielsweise eigene Fördertöpfe für den Einsatz von Gebärdendolmetscher:innen. Über die Sozialgesetzbücher und die Hamburger Kommunikationshilfenverordnung sind die Rechtsansprüche auf den Einsatz von Gebärdendolmetscher:innen für die einzelnen Bürger:innen gesetzlich verankert.
Gehörlose Menschen berichten jedoch immer wieder, dass insbesondere im Bereich der Eingliederungshilfe die bundesgesetzlichen Vorgaben zur Beantragung von Leistungen zu kompliziert und umständlich sind. Zwar können auch hierbei Dolmetscher:innenleistungen beantragt werden, oft genug bedarf es jedoch auch einer niedrigschwelligen ad hoc (Sozial-)Beratung, wenn es etwa darum geht, als gehörloser Mensch eine Wohnung zu suchen oder eine Bewerbung zu schreiben. Damit gehörlose Menschen weiterhin bedarfsgerecht aber in Zukunft deutlich niedrigschwelliger Leistungen in Hamburg erhalten, bedarf es einer Prüfung, inwieweit durch eine landesgesetzliche Regelung bürokratisch schlankere Antragswege gefunden werden können. Bevor eine solche landesgesetzliche Neuregelung umgesetzt wird, können andere Maßnahmen wie etwa die Ausweitung bestehender Zuwendungen dafür Sorge tragen, dass die Inanspruchnahme von Gebärdensprachdolmetschungen und niedrigschwellige Beratungen schneller und bürgerfreundlicher umgesetzt werden.
Im Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen für die 23. Legislaturperiode wurde festgehalten, dass der Senat sich auf Bundesebene dafür einsetzen wird, dass ein Entschädigungsfonds für Schüler:innen aufgelegt wird, die Leid und Unrecht aufgrund ihrer Gehörlosigkeit in Schulen erlebt haben. Zudem sollen das Leid und Unrecht in Hamburg wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Eine solche Aufarbeitung wird voraussichtlich drei Jahre Zeit in Anspruch nehmen. Außerdem haben die Koalitionsparteien vereinbart, eine landesgesetzliche Regelung zu prüfen, um Leistungen für gehörlose Menschen in Hamburg niedrigschwelliger zu ermöglichen.
I. Vor diesem Hintergrund stellt die Hamburgische Bürgerschaft fest:
1. Durch den 1880 auf dem Mailänder Kongress beschlossenen Vorzug der Lautsprache, der in der Praxis in vielen Ländern als sogenanntes „Gebärdensprachverbot“ umgesetzt wurde, mussten viele gehörlose Menschen Gewalt und Leid erleben, das sich bis heute auf ihre Lebenslage auswirkt.
2. Die Folgen dieser strukturellen Gewalt, insbesondere in Bildungseinrichtungen, sind bis heute nicht umfangreich aufgearbeitet, anerkannt und entschädigt worden.
3. Die Umsetzung des sogenannten „Gebärdensprachverbots“ wird ausdrücklich bedauert.
4. Die Hamburgische Bürgerschaft bittet die Betroffenen für das in Hamburg erlittene Leid um Entschuldigung.
II. Die Bürgerschaft möge beschließen:
Der Senat wird ersucht,
1. sich auf Bundesebene für einen Entschädigungsfonds für heute Erwachsene, die als Kinder und Jugendliche in Schulen Leid und Unrecht auf Grund ihrer Hörschädigung erfahren haben, einzusetzen,
2. die Situation an Hamburger Schulen bezüglich der Erfahrungen und des Leides, das Kinder und Jugendlichen auf Grund ihrer Hörschädigung erlitten haben, unter Einbeziehung gehörloser Menschen als Expert:innen in eigener Angelegenheit und der Forschungsperspektiven der Deaf Studies, wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen,
3. zu prüfen, welche landesgesetzlichen Regelungen geschafften werden können, um Leistungen für gehörlose Menschen niedrigschwelliger zu ermöglichen,
4. der Bürgerschaft bis zum 30.06.2026 einen Zwischenbericht zu geben.
- Irene Appiah
- Julia Barth-Dworzynski
- Mithat Çapar
- Kemir Čolić
- Matthias Czech
- Nils Hansen (Fachsprecher:in Schule)
- Astrid Hennies
- Tom Hinzmann
- Danial Ilkhanipour
- Regina Elisabeth Jäck (Fachsprecher:in Menschen mit Behinderung)
- Ali Kazanci
- Jan Koltze
- Claudia Loss
- Baris Önes (Fachsprecher:in Soziales)
- Anja Quast
- Juliane Timmermann
sowie
- Andreas Grutzeck
- Antje Müller-Möller
- Silke Seif
- Stefanie Blaschka
- Dietrich Wersich (CDU) und Fraktion und Kathrin Warnecke
- Filiz Demirel
- Mareike Engels
- Linus Görg
- Michael Gwosdz
- Lisa Kern
- Jan Koriath
- Parica Partoshoar
- Dr. Selina Storm
- Mechthild Weber (GRÜNE) und Fraktion und Thomas Meyer
- David Stoop
- Heike Sudmann
- Stephan Jersch
- Xenija Melnik
- Deniz Celik
- Dr. Carola Ensslen
- Olga Fritzsche
- Marco Hosemann
- Kay Jäger
- Marie Kleinert
- Hila Latifi
- Jan Libbertz
- Dr. Sabine Ritter
- Martin Wolter und Fraktion (Die Linke)