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Zwischengeschlechtliche Menschen

Freitag, 20.02.2009

In der Bundesrepublik Deutschland leben mehr als 80.000 Hermaphroditen. Vier Fünf¬tel von ihnen wurden ohne eigene Zustimmung im Kindesalter im Rahmen ei¬nes sogenannten „geschlechtsangleichenden Eingriffs“ zum Teil mehrfach operiert. Ein Großteil von ihnen empfindet dies heute als fremdbestimmte Festlegung auf ein Geschlecht, mit dem er sich so nicht identifiziert sowie als Verstümmelung und als Beraubung seiner Menschenrechte. Viele sind traumatisiert und haben massive psy¬chische und physische Schäden davon getragen. Die Hamburger Studie 2007 (vgl. www.springer.com/medicine/thema) und die Lübecker Studie 2008 (http://www.netztwerk-dsd.uk-sh.de/fileadmin/docu¬ments/netzwerk/evalstudie/ Bericht_Klinische_Evaluationsstudie.pdf) zeigen außer¬dem, dass die Behandlungs-unzufriedenheit von Betroffenen und deren Eltern ekla¬tant hoch ist und insbesondere betroffene Kinder und Jugendliche ihre Lebensqua¬lität deutlich niedriger bewerten als eine Vergleichsgruppe von Nichtbetroffenen.

Angesichts dessen, dass in anderen Gesellschaften als Zwitter Geborene ohne ei¬nen sogenannten „geschlechtsangleichenden Eingriff“ gesund alt werden, stellt sich die Frage, ob bei uns eine solche Operation wirklich auch immer medizinisch indiziert ist oder ob nicht bereits die Verletzung einer Norm-Vorstellung des behan¬deln¬den Arztes oder die Befürchtung späterer psychosozialer Beeinträchtigungen (Hänseleien) als medizinische Indikationen verstanden werden. Wenn dem so ist, ist nicht das Geborensein als Zwitter das Übel, das (operativ) bekämpft werden muss, sondern ein überholtes Bewusstsein in der Gesellschaft. Dieses zu ändern muss absoluten Vorrang haben vor einer irreversiblen operativen Festlegung auf ein anderes Geschlecht! Auch die Hamburger Studie kommt zu dem Ergebnis, dass im überwiegenden Teil der Fälle eine medizinische Indikation nicht vorhanden sei, weshalb ein Hinausschieben der Entscheidung und Behandlung in ein ent¬schei¬dungsfähiges Alter zu überlegen wäre. Es scheine daher in den meisten Fäl¬len sinnvoll zu sein, die Entscheidung pro oder contra „geschlechtskorrigierender“ Eingriffe auf ein Alter zu verlegen, in dem die Patienten urteils- und einwilligungs¬fähig sind.

Es gilt, Gesellschaft, Medizin und Politik für diese Fragen zu sensibilisieren.

Des¬we¬gen fragen wir den Senat:

1. Sind dem Senat bzw. der Fachbehörde die Ergebnisse der Hamburger Intersex-Studie 2007 und der Lübecker Studie 2008 bekannt? Wenn ja, wie werden sie bewertet? Wenn nein, gedenkt der Senat bzw. die Fachbehörde sich damit zu befassen? Wenn nochmals nein, warum nicht?

2. Die Hamburger Intersex-Studie 2007 kommt unter anderem zu dem Ergebnis: „Alle Personen der Studie erhielten medizinische Interventionen, obwohl nur für wenige eine medizinische Indikation gegeben ist.“ Stimmt der Senat darin überein, dass entsprechende Interventionen rechtswidrig sind und im Falle von Operationen den Straftatbestand der vorsätzlichen Körperverletzung erfül¬len? Wenn ja, sieht der Senat bzw. die Fachbehörde mittlerweile die Notwendigkeit sich mit der Frage der Entschädigung der Opfer zu beschäftigen?

3. Der Senat stellt in seiner Antwort in Drucksache 19/1678 zu 15. und 16. Möglichkeiten der Hilfe für Genitaloperierte vor. Darunter psychologische und psychotherapeutische Hilfe sowie Nachsorge- und Versorgungsmöglichkeiten für Genitaloperierte im UKE. Stimmt der Senat der Auffassung zu, dass es besser wäre, überflüssige Operationen zu vermeiden, als erst zu operieren und dann hinterher Nachsorge- und Weiterversorgungs-Pakete anbieten zu müssen, oder geht der Senat noch immer davon aus, dass in Hamburg niemand unnötiger Weise operiert worden ist und weiterhin wird?

4. Sind dem Senat bzw. der Fachbehörde die Forderungen des Vereins Intersexuelle Menschen e.V. (http://inter-sexuelle-menschen.net/forderungen.html) bekannt? Wenn ja, wie bewertet er insbesondere die Einführung unter Punkt 1) dort? Wenn nein, gedenkt sich der Senat damit zu befassen? Wenn nochmals nein, warum nicht?

5. Auf die Fragen 3.a) bis c) und 4. aus Drucksache 19/1238, bei wie vielen Hermaphroditenkindern von 1950 bis heute sogenannte „geschlechts-angleichende Eingriffe“ durchgeführt wurden und ob heute noch geschlechts-angleichende Operationen bei Hermaphroditenkindern durchgeführt werden, antwortet der Se¬nat, eine Einzelfallauszählung sei in der für die Bearbeitung einer Schriftlichen Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. Wir erbitten daher die Beant¬wor¬tung der Fragen 3.a) bis c) und 4. aus Drucksache 19/1238 jetzt im Rahmen dieser Großen Anfrage.

6. Der Senat antwortet in Drucksache 19/1678 auf die Frage 17. „Trifft es zu, dass Betroffenen am UKE Akten nicht herausgegeben worden sind?“ mit „Nein. […]“ Die Fragesteller dieser Großen Anfrage können eine Zeugin be¬nen¬¬nen, die aussagt, das UKE weigere sich, ihre Akten herauszugeben, und sie ken¬ne weitere Fälle von Betroffenen, denen die Aktenherausgabe eben¬falls ver¬weigert wird. Die Zeugin der Fragesteller ist bereit, dem Senat mit ih¬rem vol¬len Namen als Auskunftsperson zur Verfügung zu stehen. Wie bewer¬tet der Senat diesen neuen Sachverhalt und was wird er unternehmen?

7. Die Ergebnisse der Hamburger Studie zeigen, dass die bisherige Behandlung das Ziel einer möglichst eindeutigen Geschlechtszuweisung – also „weiblich“ oder „männlich“ – verfolgte. Eine solche Festlegung ist jedoch gar nicht im In¬ter¬esse der Betroffenen. Zwittrigkeit darf grundsätzlich nicht als „krankhafter, ab¬normer Zustand“ angesehen werden, der „behandelt“ werden muss! Herm¬aphroditen fordern deshalb eine Anerkennung als eigenes, drittes Geschlecht. Derzeit gesetzliche Bestimmungen tragen jedoch dazu bei, eine entsprechen¬de gesellschaftliche Akzeptanz zu verhindern. So sind in standesamtlichen Ur¬kunden derzeit nur die Einträge „weiblich“ oder „männlich“ erlaubt, nicht aber etwa „Hermaphrodit“, „zwittrig“ oder „Zwitter“. Bereits im Preußen des 18. Jahr¬hunderts war dies sehr wohl möglich. Erst im sogenannten „Dritten Reich“ wurde entschieden, dass es nur noch die Einträge „weiblich“ oder „männlich“ zu geben hat. Die Folgen, die sich daraus ergeben, waren damals für Herma¬phroditen katastrophal. Doch auch heute noch wirkt sich offenbar ein normati¬ver Druck, sich auf ein anderes Geschlecht – nämlich „weiblich“ oder „männ¬lich“ – festlegen zu müssen, auf Entscheidungen zugunsten eines sogenann¬ten „geschlechtsangleichenden Eingriffs“ aus.

a) Auch wenn der Senat sich, wie aus der Antwort zur Drucksache 19/1678,4. hervorgeht, bisher noch nicht damit befasst hat, ob er über den Bundesrat eine Gesetzesinitiative starten wird, die den Eintrag „zwittrig“ in standesamtlichen Dokumenten erlaubt: Wie bewertet er bzw. die Fachbehörde denn die Relevanz dieses Themas und gedenkt er bzw. die Fachbehörde, sich in Zukunft damit zu befassen?

b) Gibt es auf Bundesebene Initiativen zur Veränderung der o.g. Rechtslage? Wenn ja, welche?

c) Gibt es in anderen Bundesländern Diskussionen bzw. Initiativen die o.g. Rechtslage zu verändern? Wenn ja, welche?

d) Maßgebend für die Beurkundung der Geschlechtszugehörigkeit im Gebur¬ten¬buch ist laut Antwort des Senats in Drucksache 19/1678,2. die Beschei¬ni¬gung des Arztes oder der Hebamme. Wie entscheiden Arzt oder Hebam¬me bei der Diagnose „uneindeutiges Geschlecht“ über die Geschlechtszu¬ge¬hörigkeit, wenn die Eltern die Zustimmung zu einem sogenannten „ge¬schlechtsangleichenden Eingriff“ verweigern? Nach welchen Kriterien le¬gen sich dann Arzt oder Hebamme auf die einzigen vorgegebenen Mög¬lich¬keiten „weiblich“ oder „männlich“ fest? Wie entscheiden sie, wenn eine sogenannte „Chromosomen-Abnormalie“ (weder XX- noch XY-Kombina¬tion) vorliegt? „Mädchen“ oder „Junge“?

e) Standesamtsrechtlich ist eine Beurkundung entweder „weiblich“ oder „männ¬lich“ zwingend vorgesehen. Gedenkt der Senat sich mit der Frage zu befassen, wie er es bewertet, dass bei sogenanntem „uneindeutigen Ge¬schlecht“ in jedem Fall eine falsche Beurkundung erfolgen muss („weiblich“ ist nicht richtig und „männlich“ auch nicht) und Kindern damit definitiv ein falsches Geschlecht zugewiesen wird?

f) Dem Senat bzw. der Fachbehörde ist nicht bekannt, dass im Preußen des 18. Jahrhunderts der Eintrag „zwittrig“ erlaubt war und ein Zwang zu einer standesamts¬recht¬lichen Festlegung auf entweder „männlich“ oder „weiblich“ erst unter den Na¬zis erfolgte. Es sei weiter nicht bekannt, wie die Eintragung in stan¬des¬amtliche Urkunden in der Geschichte vorgenommen wurde, heißt es in Drucksache 19/1678, Frage 3. Hält der Senat bzw. die Fachbehörde diese spezielle Frage für nicht relevant genug, sich bei Historikern fachkundig zu machen, oder lehnt es der Senat generell ab, sich bei Historikern schlau zu machen?

g) Am 21. Juli 2008 reichte eine Delegation von Intersexuelle Menschen e.V. in New York vor dem UN-Komitee CEDAW einen ersten Schattenbericht zu den Menschenrechtsverstößen an intersexuellen Menschen in Deutschland ein. Am kommenden Januar wird die Bundesregierung aufgrund der oben genannten Gesetzeslage in Genf Rede und Antwort stehen müssen. Ist dem Senat dies bewusst und gedenkt er sich mit der Frage der Bewertung dieser Tatsache zu befassen? Wenn nein, warum nicht?