PAULA 3/2023

PA U L A Die Zeitung der SPD-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft N o 3 Gastbeitrag 12 ZWISCHEN DEN WELTEN Der 30. Oktober 1961 hat keinen Platz im kollektiven Gedächtnis der deutschen Gesellschaft. Doch für uns und Millionen Menschen in Deutschland hat dieser Tag das Leben geprägt und es für immer verändert. Heute sind wir Bürgerschaftsabgeordnete, Hamburgerin und Hamburger. Früher waren wir – in den Augen der Gesellschaft und zusammen mit vielen weiteren Jugendlichen aus Ländern wie Italien, Griechenland, Spanien und Portugal – vor allem eines: Gastarbeiterkinder. Unsere Eltern sind 1964 und 1969 als Arbeitskräfte nach Deutschland gekommen. Sie arbeiteten in der Landwirtschaft, errichteten Brücken oder halfen beim Bau des Elbeseitenkanals. In dieser Zeit war „Almanya“ ein Sehnsuchtsort. Das Gastarbeiterabkommen, das am 30. Oktober 1961 in Kraft trat, eröffnete vielen Menschen eine Perspektive und einen Weg aus der Arbeitslosigkeit in ihrer Heimat. Gastarbeiter waren bei deutschen Firmen gern gesehen. Im NachkriegsDeutschland fehlten Arbeitskräfte – und wer nur kurz bleibt, arbeitet ohne Klagen und nimmt jede Aufgabe an. Trotzdem blieben sich beide Seiten fremd. Weil die Rückkehr in die Heimat ausgemacht war, gab es nur selten Hilfen beim Erlernen der deutschen Sprache, kaum gemischte Unterkünfte oder private Kontakte zwischen Deutschen und den Menschen aus der Türkei. Als Kinder wuchsen wir in zerrissenen Familien auf, pendelten zwischen den Welten und saßen manches Mal auf gepackten Koffern. In der Schule haben wir uns durchgekämpft, weil unsere Eltern uns kaum helfen konnten und zuhause manchmal einfachste Dinge wie ein Lexikon fehlten. Auch beim Einstieg ins Berufsleben lief vieles ungeplant, denn Erfahrungswerte gab es nicht. Wer in ein fremdes Land zieht, der hält an Gebräuchen fest, weil sie Vertrautheit spenden – so auch unsere Eltern. Unser Zuhause war ein Schmelztiegel der Kulturen, in demWelten aufeinander prallten. Als Kinder versuchten wir, die neuen Eindrücke in Deutschland mit den elterlichen Traditionen und Geboten in Einklang zu bringen. Die aus nächtlichem Wegschleichen, ungewohnter Kleidung und neuen Freundschaften resultierenden Konflikte haben nicht nur uns, sondern auch unsere Eltern verändert. Als Kinder wollten wir das Beste aus beiden Welten. Am Ende sind viele von uns Gastarbeiterkindern in „Almanya“ geblieben. In der Türkei wurden wir „Almanci“ – Deutschländer – genannt, in der neuen Heimat ‚„Migranten“. Wir fragten uns: Wo gehören wir eigentlich hin? Jede Familie hat darauf ihre eigene Antwort gefunden. Einige kehrten zurück, so wie es das Gastarbeiterabkommen vorgesehen hatte, und nahmen ein Stück von Deutschland mit. Andere arbeiteten weiter, brachten sich ein und veränderten so die Gesellschaft. Diesen Beitrag gilt es zu würdigen. Als Sozialdemokratin und Sozialdemokrat wollen wir die gesellschaftliche Teilhabe für alle Menschen in Hamburg stärken. Migration bietet nicht nur die Chance auf ein besseres Leben, sondern sie kann Gesellschaften bereichern. Dafür ist die Geschichte unserer Generation, die am 30. Oktober 1961 ihren Anfang genommen hat, ein wichtiges und gutes Beispiel. Güngör Yilmaz und Kazim Abaci Die SPD-Bürgerschaftsabgeordneten Güngör Yilmaz und Kazim Abaci sind Kinder türkischer Eltern. Sie blicken zurück auf über 60 Jahre deutschtürkisches Gastarbeiterabkommen. Kazim Abaci und Güngör Yilmaz: SPD-Fraktion Hamburg

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