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Unsere Anträge

Durch Anträge können Abgeordnete Einfluss auf die Politik nehmen. Anträge können mindestens fünf Abgeordnete einbringen. Sie werden auf die Tagesordnung der nächsten Bürgerschaftssitzung gesetzt. Die Bürgerschaft kann sie annehmen, ablehnen, für erledigt erklären oder an einen Ausschuss überweisen. Mit Anträgen können Aufträge und Ersuche zur Regelung verschiedener Angelegenheiten an den Senat gerichtet werden.

Aufarbeitung des NSU-Komplexes im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie sowie dauerhafte Sicherung aller Unterlagen aus Hamburg

Donnerstag, 13.04.2023

Am 27. Juni 2001 wurde Süleyman Taşköprü im Geschäft seines Vaters in Hamburg-Altona erschossen. Er war das dritte Opfer der neonazistischen terroristischen Vereinigung „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU), die zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin ermordet sowie 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle verübt hat. Diese rechtsextreme Mordserie schockierte v. a. aufgrund ihrer kaltblütigen Organisation. Während der jahrelangen Ermittlungen durch unterschiedliche Behörden schlossen diese einen rechtsextremen Hintergrund sowie einen Zusammenhang der Taten aus. Vielmehr wurden die Täter im Umfeld der Opfer gesucht, was die Angehörigen jahrelang stigmatisierte und diese enorm belastete. Dies betrifft auch die Angehörigen von Süleyman Taşköprü. Im November 2011 wurden die Täter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt tot in einem ausgebrannten Wohnmobil gefunden und Beate Zschäpe setzte die gemeinsam genutzte Zwickauer Wohnung in Brand. Erst die von ihr versandten Bekennervideos offenbarten die Verbindung der einzelnen Morde sowie den rechtsextremen Hintergrund der Mordserie. Diese Selbstenttarnung sorgte weltweit für Entsetzen.

Der NSU-Komplex ist in zahlreichen Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen auf Bundes- und Landesebene aufgearbeitet worden. Zur Auswertung hat Hamburg allen Untersuchungsausschüssen in Deutschland, dem Generalbundesanwalt sowie sämtlichen weiteren beteiligten Stellen alle Akten zugeliefert bzw. diese freigegeben, die in Hamburg vorlagen bzw. die angefordert wurden. Zusätzlich ist ein Sonderermittler, der ehemalige Grünen-Abgeordneten Jerzy Montag, vom Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestages (PKA) im Oktober 2014 eingesetzt worden. Der Bericht über die Erkenntnisse aus der Sonderermittlung wurde durch das Kontrollgremium des Bundestages im November 2015 veröffentlicht. Seit Juli 2018 liegt das Urteil des Oberlandesgerichts München zum NSU-Prozess vor. Bundesweit wurde ein umfassendes Paket an Strukturveränderungen und neuen Vorgaben für die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder beschlossen, die derartige Fehleinschätzungen und Aufklärungsdefizite zukünftig verhindern sollen.

Hamburg selbst hat den NSU-Komplex im Parlamentarischen Kontrollgremium (PKA) in 15 Sitzungen und in zehn Sitzungen des Innenausschusses der Bürgerschaft aufgearbeitet. Im April 2014 hat der Senat der Bürgerschaft einen Bericht vorgelegt, in dem die wesentlichen Entwicklungen bis zur Aufdeckung der Mordserie dargestellt und die dann erfolgten Ermittlungsmaßnahmen in Hamburg bzw. unter Beteiligung der Hamburger Sicherheitsbehörden zusammengefasst wurden (Drs. 20/11661). Zudem enthält dieser 87-Seiten-Bericht eine Auflistung der Maßnahmen, die als Konsequenz aus dieser Aufarbeitung in Hamburg umgesetzt werden sollten und wurden. So wurde unter anderem der Informationsaustausch zwischen dem Landesamt für Verfassungsschutz und dem Landeskriminalamt durch ein standardisiertes Verfahren gestärkt und Arbeitsabläufe präzisiert, um eine bessere Kontrolle zu ermöglichen.

Zur besseren Bekämpfung des Rechtsextremismus hat Hamburg in den Folgejahren sowohl den polizeilichen Staatsschutz als auch den Verfassungsschutz personell verstärkt und beim Landeskriminalamt eine Zentrale Hinweisstelle zu Rechtsextremismus eingerichtet. Da der Kampf gegen Rechtsextremismus als ressortübergreifende Aufgabe gesehen werde muss, wurde das „Kompetenznetzwerk Rechtsextremismus“ gegründet, in dem behörden- und institutionenübergreifend alle Expert:innen zusammengebracht werden, um die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu verstärken.

Der NSU-Komplex hat die Bürgerschaft weiter beschäftigt. Im Jahr 2018 hat sie eine Resolution verabschiedet, mit der den Angehörigen von Süleyman Taşköprü Beileid für den erlittenen Verlust ausgesprochen und um Entschuldigung gebeten wurde für den Umstand, dass die Ermittlungen nach dem Mord zunächst mit falschen Verdächtigungen einhergingen (Drs. 21/13442).

Dennoch stellen sich im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex nach wie vor Fragen, insbesondere dazu, wie über einen so langen Zeitraum so viele Taten unentdeckt begangen werden konnten. Dies ist auch in den Gremien der Bürgerschaft im Zuge der Aufarbeitung immer wieder festgehalten worden. Zudem ist bis heute ungeklärt, warum Süleyman Taşköprüzum Opfer des NSU wurde und ob die Mörder von Komplizen in Hamburg unterstützt worden sind. Auch aktuell werden diese Fragen und auch die Frage nach den Aktenbeständen zum NSU-Komplex mit Nachdruck gestellt.

Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, die Akten, Dokumente und Datenbestände im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex aus Hamburg durch eine unabhängige Stelle unter Berücksichtigung der bestehenden Fragen wissenschaftlich, wenn möglich interdisziplinär, aufarbeiten zu lassen. Hierfür müssen Unterlagen des Landesamtes für Verfassungsschutz sowie der Hamburger Ermittlungsbehörden herangezogen werden. Um eine wissenschaftliche Aufarbeitung zu ermöglichen, müssen diese Unterlagen zur Verfügung gestellt und gesichert werden. Neben diesen Unterlagen sollen jedoch auch andere Erkenntnisquellen herangezogen werden können. So soll beispielsweise auch im Rahmen der rechtlichen Vorgaben die Befragung beteiligter Personen zu den Geschehnissen und Ermittlungen rund um den NSU-Mord in Hamburg an Süleyman Taşköprü ermöglicht werden. Zur Begleitung der wissenschaftlichen Aufarbeitung soll bei der Bürgerschaft ein „Beirat wissenschaftliche Aufarbeitung des NSU-Komplexes“ eingerichtet werden, dessen Mitglieder Abgeordnete der Hamburgischen Bürgerschaft sind und durch die Fraktionen bestimmt werden. Dieser Beirat soll die Bürgerschaftspräsidentin bei der Ausarbeitung des konkreten Auftrages unterstützen, bei der Erstellung regelmäßiger Zwischenberichte sowie schließlich des Aufarbeitungsberichtes beraten und darüber jeweils der Bürgerschaft berichten.

Bei den Unterlagen der Hamburger Ermittlungsbehörden ist zu berücksichtigen, dass über diese seit den Ermittlungen durch den Generalbundesanwalt nicht mehr durch Hamburger Behörden verfügt werden darf. Hierzu ist vielmehr die Zustimmung des Generalbundesanwalts erforderlich.

Beim Landesamt für Verfassungsschutz existiert ein Bestand von ca. 500 Akten, bei denen sichergestellt ist, dass absehbar keine Vernichtung erfolgen wird. Zu berücksichtigen ist, dass die Weitergabe und Einsichtnahme der Unterlagen an bestimmte rechtliche Rahmenbedingungen gebunden sind, da es sich hierbei größtenteils um Verschlusssachen handelt und auch Aktenbestände nicht hamburgischer Stellen darunter sind, die gegebenenfalls einem Weitergabevorbehalt unterliegen.

Unter diesen Vorgaben sollen die Akten, Dokumente und Datenbestände zum NSU-Komplex in Hamburg zusammengestellt und einer unabhängigen Stelle zur Aufarbeitung zur Verfügung gestellt werden.

Die Beachtung besonderer rechtlicher Vorgaben ist sowohl bei der Aufarbeitung als auch bei der Veröffentlichung des Studienergebnisses zu berücksichtigen. Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang, wie das Ergebnis der Studie zustande kommt und welche Informationen über Quellen und Inhalte von Verschlusssachen zur Darstellung bestimmter Schlussfolgerungen aufgezeigt werden. Dies kann bedeuten, dass neben dem abschließenden Gesamtergebnis, das ohne Einschränkung veröffentlicht wird, einzelne Teilaspekte des Ergebnisses bzw. der Untersuchung der Arbeit der Sicherheitsbehörden gesondert betrachtet werden müssen, wenn sie Rückschlüsse auf Quellen oder methodische / taktische Vorgehensweisen der Sicherheitsbehörden zulassen. Diese Teilaspekte müssten der Bürgerschaft dann im Rahmen des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKA) zur Überprüfung vorgelegt werden.

Um sicherzustellen, dass die Akten auch unabhängig von der geplanten wissenschaftlichen Studie dauerhaft erhalten und zur Beantwortung von Fragen im Zusammenhang mit rechtsextremistischen Bestrebungen und Strukturen in Deutschland einsehbar bleiben, sollen die Unterlagen des Landesamtes für Verfassungsschutz aus dem Zeitraum 1992-2011, die potenziell einen Zusammenhang mit dem NSU-Komplex aufweisen, ebenso wie die Unterlagen, die sich auf die Ermittlungen im Mordfall Süleyman Taşköprü beziehen, in dem Umfang, in dem Hamburger Ermittlungsbehörden darüber verfügen können, durch das Staatsarchiv dauerhaft archiviert werden.

Der Koalitionsvertrag auf Bundesebene sieht zudem die Einrichtung eines virtuellen Archivs zu Rechtsterrorismus vor, in dem alle verfügbaren Unterlagen aus staatlicher Hand, der zivilgesellschaftlichen Bewegungen und journalistischer Arbeit verknüpft werden sollen. Die Arbeit zur Entwicklung eines Konzepts hierzu hat in Bund-Länder-Arbeitsgruppen bereits unter Federführung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth, begonnen.

 

Vor diesem Hintergrund möge die Bürgerschaft beschließen:

 

A. Sicherung der Akten, Dokumente und Datenbestände

 

Der Senat wird ersucht:

 

1. darzustellen, welche Akten, Dokumente und Datenbestände im Zusammenhang mit dem sog. NSU-Komplex in Hamburg vorhanden sind;

 

2. sicherzustellen, dass der den Themenkomplex betreffende vorhandene Aktenbestand dauerhaft vollständig erhalten bleibt und ihn zu diesem Zweck unter Einhaltung der rechtlichen Vorgaben in geeigneter Form an das Staatsarchiv zu übergeben und durch dieses unter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben erforderlichenfalls mit dem zukünftigen virtuellen Archiv für Rechtsterrorismus zu verknüpfen;

 

3. sicherzustellen, dass sämtliche vorhandenen Unterlagen des Landesamtes für Verfassungsschutz aus dem Zeitraum 1992-2011, die potenziell einen Zusammenhang mit dem NSU-Komplex aufweisen könnten sowie alle Unterlagen, die sich auf die Ermittlungen im Mordfall Süleyman Taşköprü beziehen, in dem Umfang, in dem Hamburger Ermittlungsbehörden darüber verfügen können, durch das Staatsarchiv archiviert und durch dieses ebenfalls mit dem zukünftigen virtuellen Archiv für Rechtsterrorismus verknüpft werden

 

4. sowie dieses Material zum Zwecke einer wissenschaftlichen Aufarbeitung zugänglich zu machen.

 

 

B. Wissenschaftliche Aufarbeitung und parlamentarische Begleitung

 

5. Es soll eine wissenschaftliche, möglichst interdisziplinäre Aufarbeitung vorgenommen werden, die auf Grundlage aller vorhandenen Akten, Dokumente, Datenbestände und anderer Erkenntnisquellen einschließlich der Befragung beteiligter Personen die Geschehnisse und Ermittlungen rund um den NSU-Mord in Hamburg an Süleyman Taşköprü unter gegebenenfalls erforderlichen Sicherheitsüberprüfungen auswertet und wissenschaftlich aufarbeitet.

 

6. Die Präsidentin der Bürgerschaft wird um die Beauftragung bzw. Vergabe dieser wissenschaftlichen Aufarbeitung ersucht. Der genaue Forschungsauftrag und die Vergabe werden im Benehmen mit dem Ältestenrat konkretisiert.

 

7. Wegen des großen und komplexen Dokumentenbestandes und des erheblichen Aufwandes aufgrund der Restriktionen, denen die Unterlagen in der Zugänglichkeit unterworfen sind, sind bei der Beauftragung der wissenschaftlichen Aufarbeitung ein absehbar ausreichender Zeitraum (mindestens 2 Jahre) und entsprechende (auch personelle) Ressourcen vorzusehen.

 

8. Regelmäßige, mindestens jährliche Zwischenberichte sowie das Ergebnis der Aufarbeitung werden der Bürgerschaft als Bericht zur Verfügung gestellt.

 

9. Zur Begleitung der wissenschaftlichen Aufarbeitung wird bei der Bürgerschaft ein „Beirat wissenschaftliche Aufarbeitung des NSU-Komplexes“ eingerichtet.

 

a. Dieser Beirat besteht aus 14 Mitgliedern der Hamburgischen Bürgerschaft, wobei jede Fraktion mindestens ein Mitglied und ein stellvertretendes Mitglied bestimmen kann. Die verbleibenden Plätze werden nach dem Hare/Niemeyer-Verfahren durch die Fraktionen bestimmt. Der Beirat tagt grundsätzlich öffentlich, erforderlichenfalls auch unter Maßnahmen zur Gewährleistung von Vertraulichkeit bzw. Geheimhaltung.

b. Der Beirat soll die Bürgerschaftspräsidentin bei der Ausarbeitung des konkreten Auftrages beraten, die Zwischenberichte zum Stand der Untersuchung sowie schließlich das Ergebnis der Aufarbeitung beraten und darüber jeweils berichten.

c. Der Beirat kann Ergänzungen oder Anpassungen des Aufarbeitungsauftrages vorschlagen. Diese sind von der Präsidentin im Benehmen mit dem Ältestenrat gegebenenfalls ergänzend zu beauftragen.

 

10. Über die noch nicht bestimmbaren Kosten (Personal und Sachmittel) der wissenschaftlichen Aufarbeitung, die vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg zu tragen sind, ist gesondert zu beschließen.

 

 

sowie
  • Sina Imhof
  • Eva Botzenhart
  • Alske Freter
  • Michael Gwosdz
  • Jennifer Jasberg
  • Lisa Kern
  • Dominik Lorenzen
  • Sina Koriath
  • Sonja Lattwesen
  • Lisa Maria Otte
  • Lena Zagst (GRÜNE) und Fraktion