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Das Vergaberecht Schritt für Schritt zukunftssicher machen

Mittwoch, 27.09.2023

Im Februar dieses Jahres hat die Hamburgische Bürgerschaft einen Antrag von SPD und Grünen beschlossen, der den Senat ersucht, sich für eine ressortübergreifende, nachhaltige öffentliche Beschaffung einzusetzen sowie die landesrechtlichen Rechtsgrundlagen des Vergaberechts im Hinblick auf die Einhaltung umweltbezogener und sozialer Kriterien zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen (Drs. 22/11044). Besonderes Augenmerk soll dabei auf die sogenannte „Tariftreue“ gelegt werden – im Rahmen der Durchführung öffentlicher Aufträge muss eine an tariflichen Entgelten orientierte Entlohnung sichergestellt werden. Neben der Anpassung gesetzlicher Grundlagen der Vergabe kommt der Weiterentwicklung der Rahmen und Anwendungen für die Beschaffungsstellen der Stadt eine besondere Bedeutung zu. Dabei geht es beispielsweise um den Ausbau eines zentralen, modernen Warengruppenmanagements, das auch nachhaltige Kriterien abbilden kann und so die strategische Einkaufssteuerung verbessert. Wichtig ist zudem die Weiterentwicklung des Umweltleitfadens zum Nachhaltigkeitsleitfaden – der Prozess hat begonnen und soll 2024 abgeschlossen werden. Ein Nachhaltigkeitsmonitoring soll zukünftig zeigen, in welchen Bereichen Hamburg Fortschritte macht und wo noch Entwicklungspotenzial vorhanden ist. Auch die Beratung und Weiterbildung der Beschaffer:innen soll zu einer nachhaltigeren Beschaffungspraxis beitragen.

Zudem hat die Bürgerschaft den Senat mit der Drs. 22/11044 ersucht, bei der Erarbeitung des Entwurfs die Gewerkschaften sowie weitere sozial-, umwelt-, nachhaltigkeits-, frauen- und menschenrechtspolitische Akteur:innen sowie die Kammern und den Unternehmensverband Nord e.V. im Rahmen der erforderlichen Verbändeanhörung einzubeziehen.

Mit der Vorlage des Vierten Gesetzes zur Änderung des Hamburgischen Vergabegesetzes (Drs. 22/12216) kommt der Senat dem o. g. Ersuchen der Bürgerschaft in einem ersten, aber nicht abschließenden Schritt nach. Insbesondere die hier vorgesehene erleichterte Berücksichtigung von Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, anerkannten Blindenwerkstätten und Inklusionsbetrieben bei der Vergabe geeigneter Aufträge ist als Beitrag zur Stärkung von Inklusion und Teilhabe sehr begrüßenswert.

Ausgeklammert wurde bei dem jetzigen Gesetzesentwurf die Tariftreue. Mit dieser vorläufigen Ausklammerung trägt der Senat dem Umstand Rechnung, dass im Zuge der Verbändeanhörung zu einem ersten Gesetzentwurf diesbezüglich noch weiterer Diskussionsbedarf deutlich geworden ist. Außerdem ist von Seiten des Bundes die baldige Vorlage und Beschlussfassung eines Bundestariftreuegesetzes zu erwarten. Es ist der Sache und dem Anliegen der Bürgerschaft angemessen und daher zu begrüßen, dass sich der Senat die nötige Zeit für eine gründliche, auf Verständigung mit den maßgeblichen Akteur:innen zielende Erörterung und einen sinnvollen Abgleich mit bundesgesetzlichen Regelungen nimmt.

Dennoch besteht dringender Handlungsbedarf. Während im Jahr 2014 noch 137 vergaberechtliche Verfahren über 100.000 Euro in der Kernverwaltung im Bereich Liefer- und Dienstleistungen durchgeführt wurden, waren es 2020 bereits 264. Eine Vereinfachung der administrativen Handhabung der öffentlichen Auftragsvergabe ist geboten und muss so schnell wie möglich gesetzlich verankert werden. Aus diesem Grund hat der Senat der Bürgerschaft hier zunächst ein Vorschaltgesetz vorgelegt, das die Punkte ausklammert, die aus o. g. Gründen noch nicht gesetzlich normiert werden können bzw. sollen.

Der Vorschlag des Senats, eine neue Wertgrenze in Höhe von 100.000 Euro (ohne Umsatzsteuer) einzuführen, führt dazu, dass gemäß dem neuen § 2a HmbVgG bei Aufträgen unterhalb dieses Wertes die Unterschwellenvergabeordnung (UVgO) nicht mehr angewendet werden muss und stattdessen ein erleichtertes Verfahren in der Hamburgischen Vergaberichtlinie festgelegt werden kann. Wie der Senat in seiner Protokollerklärung zur Sitzung des Haushaltsausschusses vom 20.06.2023 umfangreich dargelegt hat, muss angesichts steigender Verfahrenszahlen bei den Beschaffungsstellen eine Entlastung herbeigeführt werden. Die vollumfängliche Anwendung der UVgO, wie es der derzeitigen Rechtslage entspricht, verursacht einen hohen Bürokratieaufwand. Die Einführung eines vereinfachten Beschaffungsverfahrens wird sowohl die Beschaffungsstellen entlasten als auch für die Bieter:innen sinnvolle Erleichterungen mit sich bringen. Gerade dadurch kann es der Verwaltung dann möglich sein, erhöhte soziale und ökologische Standards bei den Vergabeverfahren über 100.000 Euro zur Geltung zu bringen.

Die Festlegung der Wertgrenze bei einer Höhe von 100.000 Euro ergibt sich daraus, dass das größte Steuerungspotenzial bei Verfahren über 100.000 Euro liegt, wie sich gemäß Anlage 2 in der Senatsdrucksache „Neue Einkaufsorganisation für Lieferungen und Leistungen“ (Nr. 2022/01246) zeigt:

 

 

Digital erfasste Verfahrensanzahl und Volumina 2019 (Liefer- und Dienstleistungen / Kernverwaltung)

 

Die Tabelle mit den Angaben zur Anzahl der digital erfassten Verfahren im Vorkrisen-Jahr 2019 zeigt, dass zwar die Anzahl der Vergaben über 100.000 Euro einen vergleichsweise geringen Anteil an dem gesamten Verfahrensvolumen ausma-chen, das bewegte finanzielle Gesamtvolumen ist hier jedoch hoch (2019: über 52 Prozent). Die Bedeutung dieses Vergabebereichs wird auch anhand der steigenden Verfahrenszahlen deutlich. Wie oben schon erwähnt haben sich die Vergabeverfahren von 137 Verfahren im Jahr 2014 bis auf 264 Verfahren im Jahr 2020 kontinuierlich erhöht und damit innerhalb von sechs Jahren fast verdoppelt. Im Jahr 2022 wurden 243 Verfahren über 100.000 Euro durchgeführt und damit das Vorkrisenniveau fast wieder erreicht. Der damit verbundene Aufwand ist bei einer vollumfänglichen Aufgabenwahrnehmung ebenfalls hoch.

Dieser Situation können die Zentralen Vergabestellen nur angemessen begegnen, wenn die rechtlichen Anforderungen im Bereich unter 100.000 Euro angepasst und damit Potenziale für die Bearbeitung des Bereichs über 100.000 Euro freigesetzt werden.

Die Festlegung einer Wertgrenze von 100.000 Euro könnte dahingehend missverstanden werden, dass soziale oder ökologische Vergabekriterien sowie auch eine zukünftig in das Gesetz aufzunehmende Tariftreueregelung bei Vergaben unterhalb dieses Wertes nicht zur Anwendung kämen. Dem ist jedoch nicht so. Die Anwendung weiterer Vergabekriterien wie z. B. der sogenannten Tariftreue, kurz gesagt: §§ 3, 3a und 3b, bleiben hiervon jedoch unberührt. Diese fallen nicht unter die o. g. Wertgrenze. Der Senat stellt im Vortext zum vorliegenden Gesetzentwurf zudem klar, dass die hier für das vereinfachte Beschaffungsverfahren vorgesehene Wertgrenze von 100.000 Euro keinerlei präjudizierende Wirkung auf eventuelle Wertgrenzen für die Anwendung einer zukünftig in das Gesetz einzufügenden Tariftreueregelung zukommt. Die zukünftige Tariftreueregelung wird – je nach Ausgestaltung der Bundestariftreueregelung – unabhängig vom Anwendungsbereich des vereinfachten Beschaffungsverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 1 HmbVgG-E und in sachgemäßer Ausgestaltung auch bei Vergaben unterhalb von 100.000 Euro Auftragsvolumen gelten.

Der neue Ausnahmebereich unter 100.000 Euro Auftragsvolumen entbindet den Senat lediglich von der Anwendung von Vorschriften zu technischen Verfahrensabläufen gemäß der Unterschwellenvergabeverordnung. So sollen die Prüfungsreihenfolge (bisher formelle Prüfung, Eignungsprüfung, Auskömmlichkeitsprüfung, Wirtschaftlichkeitsprüfung) geändert werden können, wenn z. B. das Angebot nicht das wirtschaftlichste oder das Angebot insgesamt nicht aussichtsreich ist. Bei der Eignungsanforderung sollen Bieter:innen nur noch einmal jährlich die Eignung nachweisen, statt wie bisher bei jedem Beschaffungsverfahren neu. Möglich sein soll zudem, statt das grundsätzlich anzuwendende Verfahren der öffentlichen Ausschreibung verpflichtend zu nutzen, regelhaft auf die sogenannte Verhandlungsvergabe mit drei Vergleichsangeboten zurückzugreifen, wodurch immer noch den Prinzipien des Wettbewerbs und der Wirtschaftlichkeit genüge getan wird. Eine weitere Entlastung wird die Verwendung von reiner E-Mail-Kommunikation darstellen, die bislang nicht erlaubt ist. Zuletzt werden auch noch die Dokumentationsanforderungen erleichtert. All diese Veränderungen technischer Verfahrensabläufe verringern in einem erheblichen Maß den bürokratischen Aufwand und ermöglichen damit den Beschaffungsstellen, die Menge der Beschaffungsverfahren angemessen abzuarbeiten.

Vor allem wird auch deutlich, dass auch mit diesen technischen Änderungen kein ungeregelter Bereich entsteht. Durch das vereinfachte Beschaffungsverfahren wird kein „rechtsfreier Raum“ entstehen, der den Beschaffungsstellen grenzenlose Freiheiten einräumt. Hierzu kann bspw. auch auf Sachsen-Anhalt verwiesen werden, wo gem.

§ 2 Auftragswerteverordnung (AwVO) eine Verhandlungsvergabe bis unter den Schwellenwert in Höhe von 215.000 Euro erlaubt ist, ohne dass vergaberechtliche Bedenken geäußert wurden. Diese Regelung ist also auch im Vergleich mit anderen Bundesländern nicht ungewöhnlich, sondern wird dort ebenfalls angewendet. Letzteres gilt auch für die vorgesehene Regelung des Unterschwellenbereichs mittels Verwaltungsvorschrift.

All diese Erleichterungen dienen ausschließlich dem Ziel, die Arbeitsfähigkeit der Vergabestellen, deren Situation durch massiven Verfahrenszuwachs und eine ständig zunehmende Komplexität der Verfahren geprägt ist, zu erhalten.

In der Sitzung des Haushaltsausschusses am 20. Juni 2023 ist zudem erkennbar geworden, dass ein weiterer wichtiger Aspekt zur Entbürokratisierung des Beschaffungswesens in der geplanten Anhebung der Direktauftragswertgrenze von 1.000 Euro auf 5.000 Euro liegt. Direktaufträge bieten die Möglichkeit einer bedarfsorientierten Beschaffung in Bereichen mit geringer gesamtwirtschaftlicher und haushälterischer Steuerungswirkung. Direktaufträge nach § 14 UVgO sind keine Vergabeverfahren, schaffen aber bei standardisierten oder weitverbreiteten Gütern eine Angebotsvielfalt und ausreichend Wettbewerb. Die Möglichkeit, die Wertgrenze für Direktaufträge von derzeit 1.000 Euro anzuheben, trägt zur Entlastung der Vergabestellen bei, begründet sich im Prinzip der Wirtschaftlichkeit (§ 7 LHO) sowie aus der Wirtschaftlichkeitsprüfung der zentralen Beschaffungsstellen durch den Rechnungshof und trägt der Preisentwicklung der letzten Jahre Rechnung. Bei Vergabeverfahren mit einem geringen Auftragsvolumen übersteigen die Verfahrenskosten die möglichen wettbewerblichen Vorteile eines formellen Vergabeverfahrens. Die hohen formalen Anforderungen in diesem Bereich widersprechen dem Grundsatz der Förderung von klein- und mittelständischen Unternehmen und tragen zu einer Reduktion der Angebotsvielfalt bei. Somit trägt diese Verfahrensvereinfachung zur Entbürokratisierung bei und kann damit die Zufriedenheit von Auftragnehmer:innen steigern. Wie auch schon mit der Einführung der 100.000 Euro-Grenze wird zudem auch hiermit ermöglicht, dass der wertmäßig darüber liegende Bereich von einer erhöhten Bearbeitungsqualität profitiert. Zudem wird sich Hamburg mit diesem Schritt auch hier den Regelungen in anderen Bundesländern anpassen, die die Grenze für Direktaufträge zumeist zwischen 3.000 und 5.000 Euro angehoben haben.

Die im Gesetzentwurf vorgeschlagene Möglichkeit in akuten, besonderen Katastrophenfall die Anwendung der Vorgaben des Vergabegesetzes befristet auszusetzen, ist eine wichtige Maßnahme, um Hamburg für künftige Katastrophen gut aufzustellen. Nicht zuletzt die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass Katastrophen in Form von Pandemien jederzeit unvorhersehbar auftreten können. Ein Missbrauch dieser Befugnisse ist nicht zu befürchten. Bereits der eng beschriebene Tatbestand verhindert dies; zudem ist der Senat verpflichtet, die beschlossenen Rechtsfolgen sehr differenziert zu fassen, was eine vertiefte inhaltliche Befassung voraussetzt und pauschales „Abräumen“ vergaberechtlicher Regelungen verhindert. Dementsprechend sieht der Gesetzesentwurf vor, dass die Geltungsdauer der Ausnahmeverordnung auf den für die Bekämpfung des Katastrophenfalls erforderlichen Zeitraum zu begrenzen ist und jeweils höchstens für ein Jahr festgesetzt werden darf.

Es ist festzuhalten, dass von dieser Möglichkeit äußerst restriktiv Gebrauch zu machen ist. Vor dem Erlass dieser Rechtsverordnung sind mindestens der Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB), die Vereinigung der Unternehmensverbände in Hamburg und Schleswig-Holstein e.V. (UV-Nord), die Handelskammer Hamburg (HK) und die Handwerkskammer Hamburg (HWK) zu konsultieren.

 

Vor diesem Hintergrund möge die Bürgerschaft beschließen:

Der Senat wird ersucht,

1. den Mitgliedern des Haushaltsausschusses zu den auf Basis dieser Rechtsänderungen zu erlassenden untergesetzlichen Verwaltungsvorschriften Bericht zu erstatten;

2. von der Ausnahme im Katastrophenfall nach § 1 Absatz 4 HmbVgG (neu) im Interesse der Geltungserhaltung der vergaberechtlichen Maßstäbe nur äußerst restriktiv Gebrauch zu machen und in jedem Fall vor Nutzung des Ausnahme-tatbestands die vergaberelevanten Stakeholder zu konsultieren. Hierzu gehören mindestens der Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB), die Vereinigung der Unternehmensverbände in Hamburg und Schleswig-Holstein e.V. (UV-Nord), die Handelskammer Hamburg (HK) und die Handwerkskammer Hamburg (HWK);

3. die entsprechende Ausnahmeverordnung der Bürgerschaft zeitgleich zur Beratung zur Kenntnis zu geben (vergleichbar der Eindämmungsverordnung in der Corona-Krise);

4. in Ergänzung des vorliegenden Gesetzes einen weiteren Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Hamburgischen Vergabegesetzes in Abhängigkeit von der Vorlage des Bundestariftreugesetzes möglichst bis zum 31.12.2023 nach den Vorgaben der Drs. 22/11044 vorzulegen, mit dem sichergestellt wird, dass das in diesem Bürgerschaftsbeschluss formulierte zentrale Ziel umgesetzt wird, die sogenannte Tariftreue unabhängig vom Anwendungsbereich des ver-einfachten Beschaffungsverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 1 HmbVgG-E und in sachgemäßer Ausgestaltung auch bei Vergaben unterhalb von 100.000 Euro Auftragsvolumen zur Geltung zu bringen.

 

sowie
  • Dennis Paustian-Döscher
  • Eva Botzenhart
  • Mareike Engels
  • Alske Freter
  • René Gögge
  • Linus Görg
  • Michael Gwosdz
  • Jennifer Jasberg
  • Lisa Kern
  • Dominik Lorenzen
  • Zohra Mojadeddi
  • Lena Zagst (GRÜNE) und Frak-tion