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Konsequenzen aus dem Fall Morsal O.: Überprüfung laufender Fälle anhand eines „worst-case“-Szenarios

Donnerstag, 24.07.2008

Das 16-jährige Mädchen Morsal O. wurde in der Nacht vom 15. auf den 16. Mai 2008 von ihrem Bruder mit mehreren Messerstichen getötet. Das Mädchen befand sich zu diesem Zeitpunkt in der Obhut des Kinder- und Jugendnotdienstes (KJND), einer Einrichtung des „Landesbetriebes Erziehung und Berufsbildung“ (LEB). Der LEB ist kein freier Träger der Jugendhilfe, sondern untersteht unmittelbar der Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz (BSG).

Seit November 2006 war staatlichen Stellen bekannt, dass Morsal Opfer häuslicher Gewalt war. Sie wurde von mehreren Familienmitgliedern wiederholt schwer geschlagen. Ihre Eltern haben sie von der Schule abgemeldet und für mehrere Monate nach Afghanistan geschickt, wo sie offenbar zwangsweise verheiratet werden sollte. Ihr Bruder, der sie getötet hat, war wegen wiederholter Gewaltdelikte vorbestraft und stand zur Tatzeit vor einem Haftantritt. Staatliche Stellen waren seit längerem mit Morsal und Mitgliedern ihrer Familie befasst. Die parlamentarischen Anfragen der SPD-Fraktion und die Beratungen im Familien-, Kinder- und Jugendausschuss der Bürgerschaft haben gezeigt, dass das vorhandene Instrumentarium der Kinder- und Jugendhilfe bzw. des Rechtsstaates offenbar nicht in ausreichender Konsequenz zum Wohle Morsals genutzt wurde.

Senator Wersich für die Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz (BSG) sowie Senatorin Goetsch für die Behörde für Bildung und Sport (BBS) haben bereits am 27.05.2008 per Pressekonferenz und –mitteilung angekündigt: „Derartige Fälle sollen zukünftig immer in einer Art „worst-case“-Szenario, also aus Perspektive des schlimmst möglichen, analysiert und entsprechende Maßnahmen ergriffen werden.“

Dieses „worst-case“-Szenario nur „zukünftig“ zugrunde zu legen ist natürlich nicht ausreichend; vielmehr bedarf es eines solchen Szenarios auch für die Gefahreneinschätzung bei bereits laufenden Fällen – also für Fälle von Kindern und Familien, die bereits staatlichen Stellen oder beauftragten Einrichtungen aufgefallen sind oder Kontakt zum Beratungs- und Hilfeangebot der Stadt haben.

Mit der Regelung in § 8 a SGB VIII – „Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung“ – ist das staatliche Wächteramt bei Kindeswohlgefährdung gestärkt worden. In der Gesetzesbegründung zum „Tagesbetreuungsausbaugesetz“ (TAG), das die vorläufigen Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen neu ordnet bzw. zusammenfasst, heißt es zu § 42: „Wenn das Kindeswohl gefährdet ist, ist der Staat in Wahrnehmung seines Wächteramts nach Artikel 6 Abs. 2 Satz 2 GG nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die Pflege und Erziehung des Kindes sicherzustellen. In diesen Fällen hat das Grundrecht des Kindes auf Schutz vor Gefahren für sein Wohl Vorrang. Unter diesen Voraussetzungen ist auch eine Wegnahme des Kindes von den Personensorgeberechtigten verhältnismäßig.“

 

Die Bürgerschaft möge beschließen:

Der Senat wird aufgefordert,

1. nicht nur bei zukünftigen Fällen von Kindeswohlgefährdung der Gefährdungs- und Risikoanalyse ein „worst-case“-Szenario zugrunde zu legen, sondern schnellstmöglich auch sämtliche bereits laufende Fälle entsprechend zu überprüfen - also Fälle von Kindern und Familien, die bereits staatlichen Stellen oder beauftragten Einrichtungen aufgefallen sind oder Kontakt zum Beratungs- und Hilfeangebot der Stadt haben.

2. der Bürgerschaft bis zum 15.11.2008 über diese Überprüfung der „Altfälle“ zu berichten und dabei auch darzustellen, wie viele Fälle überprüft wurden, in wie vielen dieser Fälle es daraufhin eine Veränderung der Einschätzung sowie der getroffenen Maßnahmen gab und welche Behörden bzw. staatliche Stellen hieran beteiligt waren.