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Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern („U-Untersuchungen“) verbindlicher machen – Gesetz zum Schutz von Kindern vor Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlung

Mittwoch, 09.12.2009

zu Drs. 19/4690

 

In den letzten Jahren ist es immer wieder zu furchtbaren Fällen von Kindesvernachlässigung, Missbrauch und schweren Misshandlungen von Kindern in Hamburg gekommen. In der Diskussion um einen besseren Schutz für Kinder besteht Einigkeit darüber, dass wirksame Hilfe für Kinder nur erreicht werden kann, wenn Risikofamilien möglichst frühzeitig identifiziert und helfende Maßnahmen umgehend eingeleitet werden können. Dafür sind verschiedene Ansätze erforderlich.

Ein wichtiger Baustein für das frühe Erkennen der Problemsituationen sind die Früherkennungsuntersuchungen für Kinder. Sie dienen der Früherkennung von Krankheiten, die die körperliche oder geistige Entwicklung eines Kindes gefährden und haben den „Nebeneffekt“, dass schwere Formen der Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung durch Kinderärzte aufgedeckt werden können.

Die Teilnahmequoten gehen gemäß der letzten verfügbaren Zahlen in Hamburg mit jeder U-Untersuchung zurück: Von 97,1 Prozent bei der U1 über 94 Prozent bei der U5 auf nur noch 89,4 Prozent bei der U9. Vor allem aber zeigen sich deutlich niedrigere Teilnahmequoten bei Kindern ohne deutschen Pass sowie nicht hinzunehmende Unterschiede zwischen einzelnen Stadtteilen: Im Gegensatz zu über 90 Prozent Teilnahmequote in Lemsahl-Mellingstedt, Volksdorf oder Wellingsbüttel, stehen 57,4 Prozent in St. Pauli, 60,8 Prozent auf der Veddel oder 61,4 Prozent in Altona-Altstadt. In mehreren sozial schwachen Stadtteilen wie z.B. St. Georg oder Billstedt ist die ohnehin niedrige Quote sogar noch weiter zurückgegangen (vgl. Drs. 19/2412).

Erfahrungswerte zeigen, dass die Nichtteilnahme an den Früherkennungsuntersuchungen ein Indiz dafür sein kann, dass die Eltern der ihnen obliegenden Fürsorgepflicht nicht ausreichend nachkommen. Die Feststellung, welche Kinder an diesen Untersuchungen nicht teilnehmen, kann somit ein wichtiger Ansatzpunkt für helfende Interventionen der Kinder- und Jugendhilfe und des öffentlichen Gesundheitsdienstes sein.

Ziel ist es zudem, die Teilnahmequote an den Früherkennungsuntersuchungen, insbesondere von gefährdeten Kindern aus Risikofamilien in schwierigen Situationen, zu steigern, um bereits frühzeitig den körperlichen und geistigen Zustand der Kinder durch Ärzte überprüfen zu können.

Es ist daher erforderlich, landesgesetzliche Grundlagen zu schaffen, die dem staatlichen Schutzauftrag aus Artikel 6 Absatz 2 Grundgesetz und § 8a SGB VIII Rechnung tragen und den Behörden präventive Maßnahmen ermöglichen. Dazu muss eine Befugnis zur Datenerhebung und -weitergabe geschaffen werden, die den Datenaustausch zwischen Meldebehörde, Gesundheitsämtern und der Jugendhilfe ermöglicht.

Auch hierfür ist ein Datenaustausch erforderlich, der es den zuständigen Stellen ermöglicht, durch geeignete Maßnahmen, wie gezielte Einladungen zu den Untersuchungen oder durch das Angebot zur Beratung über den Zweck der Untersuchungen nachzufassen, wenn Kinder nicht zu den vorgesehenen Untersuchungen erscheinen.

Daher sollen die Jugendämter nach festgestellter Verweigerung der Teilnahme an den Frühuntersuchungen informiert werden, um geeignete und notwendige Maßnahmen zur Abwendung der Gefährdung oder bereits eingetretenen Gefahr für das Kindeswohl einzuleiten.

Die Bundesländer haben im Rahmen der Gesundheitsgesetzgebung die Regelungskompetenz dazu haben. Im Saarland haben alle Parteien gemeinsam bereits im Februar 2007 ein entsprechendes Gesetz beschlossen. An diesem Verfahren orientiert sich der nachstehende Gesetzentwurf der SPD-Fraktion.

Der in das Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst in Hamburg einzufügende § 7 a hat den Zweck, durch Erinnerungsschreiben an die Erziehungsberechtigten die Teilnahmequote an den Früherkennungsuntersuchungen beginnend mit der U3 zu erhöhen. Damit soll Kindern ein Mindestschutz durch eine vom Gemeinwesen vorgehaltene ärztliche Kontrolle gewährt werden.

Im Rahmen eines abgestuften Systems soll den Erziehungsberechtigten, wenn sie ihre Kinder trotz Erinnerung nicht an den Früherkennungsuntersuchungen teilnehmen lassen, möglichst zeitnah die unmittelbare Untersuchung durch den öffentlichen Gesundheitsdienst angedient werden. Wenn die Erziehungsberechtigten auch diese Untersuchung verweigern, soll durch eine Meldung an die mit der Wahrnehmung der Kinder- und Jugendhilfe betrauten Behörden die Möglichkeit verbessert werden, weitergehende Nachforschungen vorzunehmen und gegebenenfalls durch eingreifende Maßnahmen zu helfen.

Die Senatsantwort auf eine Große Anfrage der SPD-Fraktion (Drs. 19/2412) zeigt: Von den 15 anderen Bundesländern haben – bei allen Unterschieden – elf landesgesetzliche bzw. rechtliche Regelungen und die vier verbleibenden bereits Gesetzentwürfe für eine Stärkung der Verbindlichkeit von Vorsorgeuntersuchungen. Allein der Hamburger CDU-Senat bzw. CDU-geführte Senat ist hier lange untätig geblieben und die CDU-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft hat den Gesetzentwurf der SPD-Fraktion bisher zweimal abgelehnt (vgl. Drs. 18/5537 und 18/7481). Die GAL-Fraktion hat diesen Gesetzentwurf nach Zustimmung in der 18. Legislaturperiode (LP) in der 19. LP abgelehnt (vgl. 19/2700).

Die Verbände der Ersatzkassen – VdAK/AEV-Landesvertretung Hamburg – hatten den SPD-Gesetzesvorschlag ausdrücklich begrüßt (vgl. Pressemitteilung vom 17. Januar 2007). Auch der Deutsche Ärztetag hat verbindliche ärztliche Vorsorgeuntersuchungen für Kinder im Sinne dieses Gesetzentwurfes gefordert: „Jugendhilfe und öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖDG) sollen in einem gesetzlich verankerten Meldewesen Eltern, die ihr Kind nicht zu den Früherkennungsuntersuchungen bringen, über ein Erinnerungsverfahren zur Teilnahme auffordern“ (vgl. Pressemitteilung der Bundesärzte-kammer vom 17.05.2007).

Erst mit dem Antrag Drs. 19/2463 aus dem März 2009 gab es überhaupt einen Beitrag von CDU- und GAL-Fraktion zu den Vorsorgeuntersuchungen. Dieses Ersuchen an den Senat beschränkt sich allerdings auf ein zweijähriges Modellvorhaben, das zudem lediglich die U6 und U7 umfasst. Zudem soll - bereits vor Beginn des Modellversuchs - die nach dem Hamburger Kinderbetreuungsgesetz (KibeG) vorgeschriebene Untersuchung in den Kitas abgeschafft werden, weil sie angeblich eine Doppeluntersuchung mit der neuen U7a wäre.

Mit der Senatsmitteilung und dem anliegenden Gesetzentwurf Drs. 19/4331 folgt der Senat diesem Antrag von Schwarz-Grün. Trotz einer Sachverständigenanhörung des Gesundheitsausschusses am 03.11.2009, die u.a. zu Kritik an der Beschränkung des Modellversuchs lediglich auf U6 und U7 geführt hat und die Behauptung einer „Doppeluntersuchung“ durch die Kita-Untersuchung und die U7a zurückgewiesen hat, halten CDU, GAL und Senat an ihrem Gesetzentwurf fest, der sich an dem in Schleswig-Holstein gewählten Verfahren orientiert.

So wurde in der Anhörung u.a. von den Sachverständigen ausgeführt:

(Alle Zitate gemäß Wortprotokoll Nr. 19/17 der öffentlichen Sitzung des Ausschusses für Gesundheit und Verbraucherschutz vom 03.11.2009.)

 

Herr Dr. med. Hans-Ulrich Neumann - Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte:

„Die U7a, und da gebe ich Ihnen recht, ist keine Doppeluntersuchung.“

 

Frau Dr. Renate Klein - Ministerium für Justiz, Arbeit, Gesundheit und Soziales des Saarlandes:

„Wir haben begonnen mit der U5 (..). Wir haben dann aber, wie gesagt, erst nach oben dann auch zu U3/U4 das Ganze erweitert, weil wir wissen, dass halt Schütteltraumen und solche Dinge gerade in der frühen Zeit vorkommen. (…). Es bewährt sich aber, weil man dann sehr früh in problematische Familien dann reinkommt. Das macht auch, sagen wir mal, einen Großteil der Hausbesuche aus, die U3, U4, weil man dann einfach beraten kann und dann gegebenenfalls auch noch weitere Hilfen machen kann.“

 

Herr Dr. Benedikt Müller-Lucks – Ministerium für Soziales, Gesundheit, Familie, Jugend und Senioren des Landes Schleswig-Holstein:

„(..) es ist eigentlich erst bei unserem System vernünftig ab der U4. Wenn man ein anderes System hat, ich kann das jetzt nicht so schnell technisch umsetzen, ist es vielleicht mit der U3.“

 

 

 

Die Bürgerschaft möge folgendes Gesetz beschließen:

 

Gesetz zum Schutz von Kindern vor Vernachlässigung, Missbrauch

und Misshandlung

Vom…

Artikel 1

Das Gesundheitsdienstgesetz vom 18. Juli 2001 (HmbVBl. 2001, S. 201) zuletzt geändert durch Gesetz vom 26. Januar 2006 (HmbGVBl. 2006, S. 29) wird wie folgt geändert:

 

1. In der Inhaltsübersicht wird nach der Angabe zu § 7 folgende Textstelle eingefügt:

„§ 7 a Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen für Kinder“.

 

2. § 7 Absatz 1 wird durch folgenden Satz 2 ergänzt:

„Er beobachtet und bewertet die förderlichen und abträglichen Bedingungen für eine gesunde Entwicklung von Kindern in ihrem Lebensumfeld.“

 

3. Nach § 7 wird folgender § 7 a eingefügt:

Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen für Kinder

(1) Der Senat bestimmt ein Gesundheitsamt als Zentrale Stelle für den Datenabgleich zur Steigerung der Teilnahme an den Früherkennungsuntersuchungen (im Folgenden: Zentrales Gesundheitsamt). Das Zentrale Gesundheitsamt ermittelt die Kinder im Alter von bis zu fünfeinhalb Jahren, die nicht an einer für ihr jeweiliges Alter gemäß §§ 26 Absatz 1 und 25 Absatz 4 Satz 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgesehenen Früherkennungsuntersuchung oder, soweit die Kinder nicht gesetzlich krankenversichert sind, an einer gleichwertigen Früherkennungsuntersuchung teilnehmen.

Die Wahrnehmung dieser Aufgabe kann auf Dritte übertragen werden, wenn der oder die Dritte die Gewähr für eine sachgerechte Wahrnehmung der Aufgaben bietet. Die Regelungen zur Kostenerstattung und zur Aufsicht durch die zuständige Behörde sind dann gesondert zu treffen.

(2) Ärztinnen und Ärzte sowie Hebammen und Geburtshelfer, die eine Früherkennungsuntersuchung nach Absatz 1 durchgeführt haben, übermitteln dem Zentralen Gesundheitsamt unverzüglich folgende Daten:

1. Familienname des Kindes (jetziger Name mit Namensbestandteilen),

2. Vorname des Kindes,

3. Tag und Ort der Geburt des Kindes,

4. Geschlecht des Kindes,

5. gesetzliche Vertreterin und/oder gesetzlicher Vertreter des Kindes,

6. gegenwärtige Anschrift der gesetzlichen Vertreterin und /oder des gesetzlichen

Vertreters des Kindes,

7. Datum der Durchführung der Früherkennungsuntersuchung,

8. Bezeichnung der durchgeführten Früherkennungsuntersuchung.

9.

(3) Zur Durchführung ihrer Aufgaben nach diesem Gesetz übermitteln die Meldebehörden dem Zentralen Gesundheitsamt regelmäßig die erforderlichen Daten. Das Zentrale Gesundheitsamt gleicht diese Daten und die Daten nach Absatz 2 miteinander ab. Die Daten sind zu löschen, wenn ihre Kenntnis für das Zentrale Gesundheitsamt nicht mehr erforderlich ist, ansonsten spätestens nach fünfeinhalb Jahren.

(4) Das Zentrale Gesundheitsamt hat die gesetzliche Vertreterin und / oder den gesetzlichen Vertreter des Kindes, dessen Früherkennungsuntersuchung – beginnend mit der U3 - bevorsteht, zur Teilnahme an der Früherkennungsuntersuchung einzuladen. Hat ein Kind an einer Früherkennungsuntersuchung ab der U3 nicht teilgenommen, so hat das Zentrale Gesundheitsamt die gesetzlichen Vertreterin und / oder den gesetzlichen Vertreter unverzüglich einzuladen, die Früherkennungsuntersuchung nachzuholen.

(5) Wird eine Früherkennungsuntersuchung ab der U3, versäumt oder wird diese oder eine folgende Früherkennungsuntersuchung, trotz einmal wiederholter Einladung nach Absatz 4 Satz 2 nicht nachgeholt, hat das Zentrale Gesundheitsamt dem bezirklich zuständigen Gesundheitsamt unverzüglich folgende Daten zu übermitteln:

1. Familienname des Kindes (jetziger Name mit Namensbestandteilen),

2. Vorname des Kindes,

3. Tag und Ort der Geburt des Kindes,

4. Geschlecht des Kindes,

5. gesetzliche Vertreterin und / oder gesetzlicher Vertreter des Kindes,

6. gegenwärtige Anschrift der gesetzlichen Vertreterin und /oder des gesetzlichen Vertreters des Kindes,

7. Bezeichnung der unterbliebenen Früherkennungsuntersuchung.

Das bezirklich zuständige Gesundheitsamt hat der gesetzlichen Vertreterin und / oder dem gesetzlichen Vertreter unverzüglich eine Beratung über den Inhalt und Zweck der Früherkennungsuntersuchung durch eine Ärztin oder einen Arzt anzubieten.

(6) Erfolgt trotz des Angebots nach Absatz 5 keine Früherkennungsuntersuchung des Kindes, so übermittelt das zuständige Gesundheitsamt dem zuständigen Jugendamt unverzüglich folgende Daten:

1. Familienname des Kindes (jetziger Name mit Namensbestandteilen),

2. Vorname des Kindes,

3. Tag und Ort der Geburt des Kindes,

4. Geschlecht des Kindes,

5. gesetzliche Vertreterin und / oder gesetzlicher Vertreter des Kindes,

6. gegenwärtige Anschrift der gesetzlichen Vertreterin und /oder des gesetzlichen Vertreters des Kindes,

7. Bezeichnung der unterbliebenen Früherkennungsuntersuchung,

8. Bezeichnung des von der gesetzlichen Vertreterin und / oder dem gesetzlichen Vertreter gegebenenfalls angegebenen Grundes für die Nichtdurchführung der Früherkennungsuntersuchung.

 

 

 

(7) Eine Meldung nach Absatz 5 und 6 erfolgt nicht, wenn sich das Kind wegen einer chronischen Erkrankung oder einer Behinderung in kontinuierlicher ärztlicher Betreuung befindet.

(8) Der Senat wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung das Nähere zur Ausstattung der Gesundheitsämter, zum Verfahren der Datenmeldungen nach den Absätzen 2 und 6, zur Durchführung des Datenabgleichs nach Absatz 3, zur Erhebung und Verarbeitung von Daten nach Absatz 7, zur Durchführung der Einladung nach Absatz 4 und zur Andienung des Angebots nach Absatz 5 zu regeln.“

 

Artikel 2

Das Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.